ePA, eAU, eRezept, DiGA, DiPA, Videosprechstunde und Telemonitoring und Co. – Die Digitalisierung stürzt mit diversen Anwendungen auf die Ärztinnen und Ärzte sowie die Medizinischen Fachangestellten (MFA) in den Praxen ein. Höchste Zeit für einen Überblick, haben sich der Verband medizinischer Fachberufe e. V. und die ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin GmbH gedacht: Seitdem bieten sie gemeinsam Schulungen für MFA an, in denen sie unterstützt durch weitere Expertinnen und Experten rund um die Digitalisierung im Gesundheitswesen informieren – mit sehr großer Resonanz: Alle Schulungen waren bisher ausgebucht.

Dennoch bleiben Fragen: Wie ist das bisherige Fortbildungsangebot für MFA und Zahnmedizinische Fachangestellte (ZFA)? Welche Themen werden bisher vernachlässigt? Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung im Gesundheitswesen für die Zusammenarbeit von Arzt/Ärztin und Praxisteam und welche Rolle spielen MFA und ZFA, um Bewegung in Digitalisierungsprozesse zu bringen? Aus diesem Grund hat die ZTG bei

  • Hannelore König, Präsidentin des Verbandes medizinischer Fachberufe e.V. und
  • Dr. med. Hans-Jürgen Beckmann, Vorstand im Ärztenetz MuM Medizin und Mehr eG in Bünde

nachgefragt, welche Bedarfe und Verbesserungspotenziale aus ihrer Sicht noch bezüglich eines digitalen Kompetenzaufbaus bei Gesundheitsfachberufen bestehen.

ZTG GmbH (ZTG): Digitalisierung im Gesundheitswesen: Wie geht’s weiter?“ – Unter diesem Titel bieten wir gemeinsam mit dem Verband medizinischer Fachberufe seit einigen Monaten Schulungen für MFA, bald auch für ZFA, an. Liebe Frau König, was hat Sie dazu gebracht, die ZTG GmbH um Entwicklung eines Schulungskonzeptes für diese Zielgruppe zu bitten?

Hannelore König (HK): Die ZTG GmbH kenne ich als Mitglied des eGBR-Fachbeirats NRW seit vielen Jahren und war bei Veranstaltungen, wie „eHealth.NRW – Das digitale Gesundheitswesen“ als Teilnehmerin dabei. Ich habe auf diese Wiese die fachlichen Kompetenzen der ZTG GmbH kennen und schätzen gelernt. Der offene Umgang des Teams mit allen Gesundheitsberufen fasziniert mich seit dem ersten Tag. Aufgrund meiner Erfahrungen aus dieser Zusammenarbeit und den Gesprächen bei Veranstaltungen zur Digitalisierung im Gesundheitswesen war die ZTG GmbH für mich der ideale Partner, um ein Schulungskonzept für Medizinische und Zahnmedizinische Fachangestellte in Nordrhein-Westfalen zu entwickeln.

ZTG: Das Schulungsangebot ist sehr gefragt. Hat Sie das große Interesse überrascht?

HK: Ich habe mit dieser Resonanz gerechnet. Viele Prozesse im Praxisalltag werden von der Digitalisierung beeinflusst. Viele Fragen waren und sind offen. Zudem ist die Fortbildungsbereitschaft der MFA und ZFA generell sehr hoch.

ZTG: Eine Frage an Sie beide: Welches Potenzial schlummert Ihrer Meinung nach in gut fortgebildeten MFA – für die Praxen, für die Patientinnen und Patienten, aber auch für die Entwicklung der Digitalisierung an sich?

Dr. med. Hans-Jürgen Beckmann (HJB): Ein sehr großes! Etliche Digitalisierungsschritte in meiner eigenen Praxis sind von den MFA angestoßen worden, die Neuerungen in anderen Praxen oder bei Fortbildungen gesehen hatten. Es sind die MFA, die, wenn ich reflexhaft sage „Nächste Woche wiederkommen!“, anregen, die nächste Befundkontrolle per elektronischer Visite (elVi®) zu machen. Es sind die MFA, die mit Pflegeheimen, die noch keine Erfahrung mit der elVi® haben, eine Videosprechstunde erproben, damit im nächsten Moment den Heimbewohnerinnen und -bewohnern der Weg in die Praxis erspart bleibt. Also: Die Fortbildung der MFA führt dazu, dass sie gute Ideen in die Praxis tragen, auf die man selbst nicht unbedingt gekommen wäre.

HK: Da kann ich nur zustimmen. MFA und ZFA können die Digitalisierung nach vorne bringen. Sie erstellen und aktualisieren elektronische Medikationspläne, befüllen elektronische Patientenakten, versenden elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, bereiten elektronische Rezepte vor und sind bei telemedizinischen Anwendungen und Videosprechstunden beteiligt. Mit ihrem pragmatischen Blick können sie Prozesse in Arzt- und Zahnarztpraxen optimieren. MFA und ZFA sind zudem die ersten Ansprechpersonen für die Versicherten. Sie genießen großes Vertrauen und können die Versicherten auf dem Weg in ein digitales Gesundheitswesen begleiten. So können die Patientinnen und Patienten stärker in die Prozesse der Digitalisierung eingebunden werden. MFA und ZFA haben darüber hinaus zahlreiche Schnittmengen zu anderen Gesundheitsberufen. Als Lotsen profitieren sie, genauso wie alle weiteren am Behandlungsprozess Beteiligten sowie die Patientinnen und Patienten, von einer verbesserten interprofessionellen Zusammenarbeit im digitalen Gesundheitswesen.

ZTG: Lieber Herr Dr. Beckmann, was erwarten Sie von Ihrem Praxisteam in puncto Digitalisierung? Welche Rolle übernehmen die MFA? Welche Aufgaben können Sie mit Hilfe der Telemedizin delegieren?

HJB: Telemedizin, speziell Videosprechstunden, machen tagtäglich einen Teil meiner Praxisarbeit aus. Dabei lege ich selbst keine Hand mehr an bei Aufruf und Aufbau der Videokonsultation, etwa in ein Pflegeheim. Vielmehr sind es meine Mitarbeiterinnen, die die Verbindung zum Heim und zur Pflegekraft am Patientenbett herstellen, sodass ich mich auf die ureigene ärztliche Tätigkeit der Beurteilung des medizinischen Befundes konzentrieren kann. Ist dies geschehen, widme ich mich wieder der Präsenzsprechstunde und werde erst wieder an den Bildschirm gerufen, wenn die nächste Video-Visite aufgebaut ist. Umgekehrt kontaktieren die in unserem Ärztenetz ambulant tätigen Wundschwestern mich aus Patientenhaushalten heraus, wenn sie eine schnelle Klärung in einer medizinischen Situation benötigen. Ansonsten arbeiten sie autark. Von den MFA in meinem Team erwarte ich, sich mit der neuen Technik als Bestandteil ihres Berufes vertraut zu machen, damit ich mich auf die medizinische Versorgung fokussieren kann und dort Zeit gewinne. Auf der anderen Seite erlaubt mir die Technik, auch komplexe Leistungen an meine MFA zu delegieren, da durch die Videokonsultation schnelle Rücksprachen und Situationsklärungen möglich sind – so als wäre die MFA in der eigenen Praxis, nur im Raum nebenan. Unsere Wundschwestern empfinden ihre Tätigkeit dadurch als aufgewertet und interessanter als zuvor.


(Fotoquelle: Hannelore König)

ZTG: Wie schätzen Sie das derzeitige Fortbildungsangebot für die MFA ein?

HJB: Der Fortbildungsbedarf in diesem neuen Gebiet ist hoch: Sei es, dass grundsätzlich technisches Wissen vermittelt werden muss, sei es, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die sich von Zeit zu Zeit ändern, vermittelt werden müssen, oder sei es die notwendige konkrete Anwendungsschulung. Diesbezüglich kann das aktuelle Angebot an MFA-Fortbildungen auf dem Markt noch erweitert werden.

HK: Wie hoch der Bedarf ist, merken wir bei Veranstaltungen, wie z. B. denen in Kooperation mit der ZTG GmbH. Häufig entstehen Fragen in der Diskussion oder bei der gedanklichen Planung der neuen Abläufe in der Praxis. Fortbildungen sollten daher, genau wie Herr Dr. Beckmann sagt, allgemeine Information genauso abbilden wie die konkrete Anwendung. Aber auch der Bedarf zum Austausch ist groß. Denn nach wie vor gilt es, diverse Hürden bei der Umsetzung zu überwinden – im Interesse der Versicherten und aller Beteiligten im Praxisteam.

ZTG: Ärztinnen und Ärzte empfinden Digitalisierung oftmals als „von oben“ aufoktroyiert. Die Begeisterung der MFA könnte aus einer anderen Richtung Bewegung bringen. Welche Rolle spielen die MFA Ihrer Meinung nach für die Etablierung telemedizinischer Anwendungen?

HJB: Aufoktroyiert fühlt sich das i. d. Regel für die Ärztinnen und Ärzte an, die meinen, alles selber machen zu müssen. Das kann bei der Vielzahl sonstiger Anforderungen von außen durchaus zu einem Gefühl der Fremdbestimmung führen. Ich handhabe das anders: Viele meiner MFA kennen sich mit der EDV und unseren sonstigen digitalen Prozessen besser aus als ich. Das fördere ich gerne, spart es mir doch jede Menge Zeit, die ich für meine Kernkompetenz, die Behandlung der Patienten, nutzen kann. Bei der Videosprechstunde haben wir in Bünde daher schon vor Jahren auf die Schulung der MFA gesetzt. Wenn wir den MFA im Ärztenetz vermitteln konnten, wie einfach die Versorgung mit der neuen Technik funktioniert, hatten wir wesentlich bessere Chancen, das Thema auch bei den Ärztinnen und Ärzten dieser Praxen zu platzieren. MFA haben somit aus meiner Sicht eine absolute Schlüsselrolle, was die Verbreitung und Akzeptanz telemedizinischer Anwendungen angeht.

ZTG: Wo besteht seitens der Entscheidungsträger noch Handlungsbedarf?

HJB: Um z. B. das Angebot der Videosprechstunde „rund“ zu machen, müssen Zusatztools wie eRezept und eAU endlich implementiert werden. Was nützt mir eine Videosprechstunde, wenn danach doch ein Rezept aus der Praxis geholt werden muss. In einem aktuellen Projekt zur Telemedizin erlebe ich soeben wieder, wie das Thema Datenschutz – der absolut erforderlich ist! – dazu führt, dass das Projekt zu kippen droht, da die projektbezogenen Prozesse zu kompliziert für die alltägliche Anwendung sind. Da müssen intelligentere Lösungen gefunden werden. Im Bankverkehr kann ich ja mittlerweile auch mit dem Handy arbeiten, ohne dass ich x Verifizierungs- und Authentifizierungsstufen von Hand abarbeiten muss.

HK: Wir merken bei unseren Gesprächen immer wieder, dass die wichtige Rolle der MFA und ZFA bei der Digitalisierung vielen Verantwortlichen in Politik und Institutionen noch nicht bewusst ist. Das Prozedere innerhalb der Praxen wird als Sache der Praxisleitung angesehen. Bestimmte Regelungen müssen aber von Anfang an beachtet werden, sonst schafft die Digitalisierung nur mehr Bürokratie. Ich denke hier z. B. an die Handhabung von eAU, eArztbrief, eRezept und der neuen Anwendungen, wie Impfausweis, Mutterpass, Vorsorgeuntersuchungsheft, Zahnbonusheft sowie den Heil- und Kostenplan. Bei diesen Anwendungen nehmen die MFA und ZFA eine zentrale Rolle ein und wurden bis heute bei der Entwicklung nicht eingebunden.


(Fotoquelle: Dr. med. Hans-Jürgen Beckmann)

ZTG: Wir sprechen gerade – mit Ausnahme der Videosprechstunde – hauptsächlich über administrative Anwendungen. Was könnten wir darüber hinaus für die Versorgung chronisch Kranker tun? Stichwort: Telemonitoring.

HJB: Die Videosprechstunde hat unser ärztliches Handlungsvermögen erweitert. Trotzdem fühlt man sich dabei manchmal noch „einäugig“. Denn ich habe zwar einen deutlichen Informationsgewinn dadurch, dass ich den Patienten sehen kann, muss mich aber bei Schilderungen der Befindlichkeit auf seine subjektiven Angaben verlassen. Die Sache würde wirklich rund, wenn ich bei einer Videosprechstunde ohne große Aufwände Zusatzinformationen bekäme, z. B. gemessene Werte von Herzfrequenz, Temperatur, Blutdruck, Blutzucker oder andere Labordaten. Technisch ist das alles möglich: So gibt es einen Fingerring, der verschiedenste Messdaten zur Verfügung stellt und sogar als Medizinprodukt registriert ist.

Ich erwähne das, weil die Kombination einer Videosprechstunde mit solchen Messgeräten nach deutschem Recht ein Medizinprodukt darstellt und entsprechend zugelassen werden muss, was sehr aufwändig und langwierig ist. Denken wir das Thema mal im großen Stil und machen wir uns klar, wie viele Leute eine Apple- oder Android-Watch oder anderen Devices, wie man diese Geräte auch nennt, besitzen. Sie alle sind in der Lage, medizinische Grunddaten, wie Temperatur, Herzrhythmus und -frequenz zu erfassen. Die Übertragung dieser Daten im Rahmen einer Videosprechstunde würde eine enorme Chance bieten, gerade chronisch Kranke oder akut Erkrankte, die der engmaschigen Überwachung bedürfen, ohne ständige Praxis- oder Krankenhausbesuche in ärztlicher Betreuung zu halten. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass das, was wir hier noch als „… wäre schön, wenn wir es hätten …“ besprechen, in den nächsten zehn Jahren selbstverständlich werden wird, da die junge Generation mit diesen Devices bereits sehr selbstverständlich umgeht.

Und ich bin auch sicher, dass sich Dienstleister finden werden, die die Interpretation der „Fitnesstracker-Daten“ anbieten, wenn es der eigene Arzt nicht tut. Dass dieser das neben einer großen Präsenzsprechstunde nur schwer leisten kann, steht außer Frage. Deshalb denke ich, dass sich überregionale sowie regionale Telemedizinzentren und -praxen etablieren werden. Darin werden geschulte Ärztinnen, Ärzte und weiteres Fachpersonal neue Formen der Patientenversorgung betreiben: im Rahmen von Videosprechstunden ergänzt durch telemetrisch erfasste Gesundheitsdaten. Gerade chronisch Kranke mit ihren häufigen Arztbesuchen würde dies aus meiner Sicht stark entlasten.

HK: Im Bereich der Digitalisierung könnte die Versorgung chronisch Kranker insbesondere in der Häuslichkeit oder in Pflegeeinrichtungen durch die flächendeckende Ausstattung der MFA, die sich zu Entlastenden Versorgungsassistentinnen und -assistenten (EVA) oder VERAH® weitergebildet haben, mit telemedizinischen Anwendungen, wie den Tele-VERAH-Rucksack deutlich verbessert werden. Auf diese Weise können Vitalparameter, wie EKG, Puls, Blutdruck, Lungenfunktion direkt an den Arzt, bzw. die Ärztin übermittelt werden und das weitere Vorgehen zeitnah abgestimmt werden. Auch die Versorgung der Patientinnen und Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen (HKE) kann telemedizinisch überwacht werden. Hier nimmt die MFA ebenfalls eine zentrale Rolle in der hausärztlichen und kardiologischen Versorgung ein.

ZTG: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

HJB: Ich stelle seit zwei bis drei Jahren eine gewisse Dynamik bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen fest. Ich hoffe, dass diese Dynamik bleibt!

HK: Wir wünschen uns, als Interessenvertretung der MFA und ZFA von Beginn an in die digitalen Entwicklungen im Gesundheitswesen einbezogen zu werden. Sichtweise und Erfahrungen unserer Berufsangehörigen müssen direkt Einfluss bei den Entwicklungen nehmen können. Und natürlich ist es wichtig, dass sich die steigenden Anforderungen in der Wertschätzung der MFA und ZFA wiederfinden – auch finanziell. Insbesondere bei der Honorierung der neuen digitalen Anwendungen müssen ihre Leistungen berücksichtigt werden. Anreizsysteme statt Sanktionen wären da ein sehr wichtiges Signal.

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